Leitkultur versus Multikulturell - 22, June 2010
Psychoanalytische Gedankenanstöße zu dem Thema Fremdenfeindlichkeit
Es ist durchaus möglich, sich rational oder intellektuell mit den Grausamkeiten zu beschäftigen, die uns tagtäglich begegnen: ob es der Krieg im ehemaligen Jugoslawien ist, Palästina oder Gewalttätigkeiten in unserem eigenen Land – wir sprechen dann über das „Unbelehrbare“ im menschlichen Wesen, über die Bestie, die in uns steckt. Trotzdem fällt es schwer, sich selbst darin wiederzuerkennen, das ganz persönliche Betroffensein bleibt meist weit weg, weil wir uns gar nicht vorstellen mögen, dass wir so etwas tun könnten oder dass es uns passiert.
Es wäre bestimmt viel einfacher, wenn man die Welt in Gut und Böse teilen könnte. Durch die klare Grenzlinie zwischen Uns und den Anderen – wobei die Anderen natürlich die Bösen sind – könnte man Ordnung schaffen. Man weiß dann, wer der Feind ist, was zu bekämpfen wäre, woher das Unheil kommt. Unsere Aufmerksamkeit hätte ihr Ziel, und ihre Aufgabe wäre, sich mit diesem Feind auseinander zu setzen.
Es ist eine alte Weisheit, dass äußere Feinde innere Zusammengehörigkeit stärken – im gesellschaftlichen Prozess gilt dies genauso wie im individuellen Prozess des Einzelnen. Innere Befriedigung mit uns selbst und den Unsrigen ist einfacher, wenn es in der Außenwelt Bedrohungen gibt. Dies ist ein altes Überlebensprinzip für alle sozialen Gruppen. So wird vielleicht auch verständlicher, warum es so wichtig für uns alle ist, Feindbilder zu konstruieren und sie zu erhalten, und wo Alte an Sinn verloren haben, Neue zu schaffen. Sicher fallen jedem genügend Beispiele von historischer Bedeutung ein – dieser Kreislauf wiederholt sich immer wieder in der Bildung von politischen Blöcken, von Kriegen zwischen Volksgruppen, von Kämpfen gesellschaftlicher Schichten untereinander, Generationenkonflikten, Familienkrisen, Ehestreitigkeiten.
Er wiederholt sich auch in der Problematik der Auseinandersetzung zwischen Deutschen und Ausländern, Einheimischen und Fremden.
Diese Hypothese wird mittlerweile gerne in Massenmedien ausgeschlachtet, sie reicht jedoch sicherlich nicht aus, wäre als Erklärungsmodell zu vereinfachend und oberflächlich. Deshalb möchte ich zwei weitere Thesen aufstellen, die mir in diesem Zusammenhang wichtig sind:
Die Spaltung in Gut und Böse entsteht durch die Unerträglichkeit der eigenen
Ambivalenz.Das heißt: Wir können schlecht ertragen, dass positive und negative Persönlichkeitsanteile nebeneinander existieren. Ja, wir negieren sogar die Existenz der negativen, bösen Wünsche, Bedürfnisse und Phantasien. Alles, was als negativ angesehen wird, darf nicht zu mir gehören, denn ich bin doch ein guter, vernünftiger und liebenswerter Mensch. Das Negative wird so als „ichfremd“ erlebt, etwas, was die oder der Andere macht, und der sich damit aus der Gemeinschaft der Guten ausgrenzt.Ich spreche hier natürlich von psychischen Prozessen, die in der Regel ohne Beteiligung des Bewusstseins, also fast automatisiert ablaufen. Dieser Mechanismus ist auch nicht per definitionem pathologisch – er gehört sogar zur ganz normalen und notwendigen psychischen Entwicklung eines Kindes und ist natürlich auch bei Erwachsenen immer wieder anzutreffen. Aber bei Erwachsenen kann man durch die Reife der Persönlichkeit erwarten, dass sie diesen „kindlichen“ Mechanismus durch das Wissen um ihre persönliche Integrität selbstkritisch reflektieren können.Ich habe manchmal von kollektiven, dann wieder von persönlichen, individuellen Prozessen gesprochen. Es wäre sicherlich falsch, beides nur auf die gleichen Mechanismen zurückzuführen. In vielen Punkten gibt es jedoch Parallelen und Überschneidungen. Ich möchte dies an einem Beispiel deutlich machen:In der Gruppe, vor allem aber in der Großgruppe wie z.B. bei Massenkundgebungen, geschehen Handlungen/Aktionen viel unmittelbarer, spontaner – vielfach unbewusst ohne weitere Reflektion. Dies liegt daran, dass der Einzelne in der Großgruppe einen Teil der sonst funktionierenden Selbstkontrolle abgibt – an die Gruppe, die als Leiter phantasiert wird und funktionieren soll. Diese Schwächung der Selbstkontrolle führt gleichzeitig zu einer Stärkung der ansonsten kontrollierten Anteile im Menschen – so können sich auch aggressive Anteile in jeder Intensität entfalten, bis hin zur Destruktion.
Das bedeutet aber, dass unter bestimmten Bedingungen jeder von uns potentiell zu Dingen fähig ist, die er in der Distanz als Unvorstellbares weit von sich weisen würde. Stellen wir uns nur einmal Paniksituationen in einem großen Raum vor – jeder weiß, wie schnell die Angst auch einen selber ergreift, ohne dass man das Gefühl hat, sich wehren zu können, wie man dann blind an einen Gedanken gefesselt agiert. Aus vielen Berichten wissen wir, dass es dabei oft zu schrecklichen Unfällen kommt.
Ein anderes Beispiel für die ansteckende Natur von emotionalen Botschaften in der Gruppe ist das Lachen – wer kann schon neben einem Lachenden sitzen, ohne nicht wenigstens mitzulächeln, vor allem wenn das Lachen dann von vielen mitgetragen wird.
Doch zurück zu meinem eigentlichen Thema: Die Gefahr des Ausländerhasses liegt nicht so sehr in den kleinen gewalttätigen Einzelaktionen krimineller Jugendlicher, denn diese Gruppen sind schnell und gut abzugrenzen und erkennbar – die Gefahr liegt in den applaudierenden Schaulustigen oder den dabei stehenden Polizisten, die nicht eingreifen, weil sie sich auch mit diesen Jugendlichen unbewusst identifizieren, nicht, weil sie im Grunde rechtsradikal seien, so wie es gerne propagiert wird, sondern weil die Aktion dieser extremen Gruppe einem Ventil bei den Zuschauenden entspricht – einem Ventil für unbewusste, ansonsten kontrollierte Aggressionen.
Es ist mir an diesem Punkt wichtig, deutlich zu machen, dass ich nicht als derjenige verstanden werden möchte, der sich als Psychoanalytiker nur in innerpsychische Prozesse vertieft und dabei etwas weltfremd die sozialen Tatsachen aus den Augen verliert. Natürlich ist mir bewusst, dass die soziale Realität mit erhöhter Arbeitslosigkeit, Verminderung des Wohlstands und auf der anderen Seite die zunehmende Zahl der Einwanderungswilligen ein Unruhe- und Unzufriedenheitspotential schafft, das nicht nur mit meiner ersten These zu erklären ist.
Die Ohnmacht, die der Einzelne bei der ständig steigenden Flut von gesellschaftlichen Problemen spürt, die Bedrohung des eigenen und des gesellschaftlichen Status Quo, die Handlungsunfähigkeit der politisch Verantwortlichen – all das produziert Angst. Das Gefühl der Machtlosigkeit gepaart mit dem Gefühl der Angst führt jedoch zur Aggression. So komme ich nun zur zweiten These:
Das Fremde produziert Angst.Der Fremde ist das Unbekannte, das Unheimliche; die Angst ist eine Angst vor Verlust.
Traditionelle Symbole, familiäre Bindungen über Generationen und soziale Zusammengehörigkeit sind wichtige Aspekte in der Bildung der eigenen Identität und ein zentraler Teil des Heimatgefühls. Die Angst vor dem Verlust dieser Formen ist mit der Angst vor dem Verlust der Erinnerung und damit der Säulen der eigenen Identität verbunden.Besonders eindrücklich sehen wir dies in einem Kulturprodukt, der „Science-fiction“: Es existiert kaum ein Film dieser Art, in dem die Außerirdischen nicht als Bedrohung der irdischen Existenz dargestellt wären – ist es nicht merkwürdig, dass trotz der immer sich wiederholenden, kaum veränderten Story fast jeder Film ein Erfolg wird? Hätte dieses Genre nicht ein unbewusstes Korrelat in der menschlichen Psyche gefunden, wären sie sicherlich nicht auf eine solche überwältigende Resonanz gestoßen. Das Unbekannte verwandelt sich auch hier in das Bedrohliche für das Bekannte, dabei wird in der Science-fiction ja jedes nur Erdenkliche in diese „Anderen“ hineinphantasiert. Die Phantasie der Ohnmacht vor dem unendlichen, mächtigeren Außerirdischen findet sich ebenfalls wieder in den Angstphantasien der Ohnmacht gegenüber „dem Osten“, oder auch in der Angst vor der unendlichen Armut der Dritten Welt. In beiden Bildern werden ebenfalls Bedrohungsgefühle geweckt – auch hier wieder die Bedrohung der eigenen, althergebrachten Existenz und Identität und deren mögliche Vernichtung.
Fast jede Kultur ist an ihrem Erhalt orientiert, Zerfallserscheinungen werden meist erbittert bekämpft. Auch unsere Kultur hat Angst vor diesem Zerfall und baut vermehrt Denkmäler zur Belebung der eigenen Erinnerung. Die Wiederbelebung alter Traditionen soll den Tod der Kultur verhindern.
Nicht umsonst gehört es zu den üblichen Kriegsritualen, dass man bei der Niederlage eines Systems dessen Symbole, Denkmäler, Embleme und Strukturen zerstört – aus Angst, dieses Fremde, Feindliche, Schlechte könnte im eigenen System vermischt weiterleben und vernichten. Die Angst vor der Assimilation des Fremden ist also die Angst vor Verlust der eigenen kulturellen Identität als Synonym für die Angst vor dem eigenen Tod.
Der Widerstand gegen das Fremde ist der Versuch, den Tod zu verleugnen. Wir vergessen dabei allzu oft, dass jede Kultur wie auch der Mensch selbst von der Inspiration durch bisher Unbekanntes, also Fremdes, durch die Neugier auf das oder den Anderen lebendig bleibt und weiterlebt, und dass eine Zementierung des Besitzstandes ohne Neubelebung zu einer leeren kulturellen Identität führen wird.